Wenn Sie schon einmal das Glück hatten, Japan zu besuchen, haben auch Sie zweifellos dieselbe Fülle von Eindrücken gewonnen wie ich, die ich heute von meinem Zuhause in London aus schreibe. Die chaotische Modernität von Tokio im Kontrast zum historischen Reichtum von Kyoto, die idyllische Landschaft, die liebenswürdige Aufmerksamkeit der Menschen und die Detailversessenheit in ihrem Handwerk.
Diese Kunstfertigkeit hat einen Namen – sie heißt „Shokunin“, was so viel wie Kunsthandwerker bedeutet und die lebenslange Hingabe an seine Kunst beschreibt, um sein Handwerk bin in jedes Detail zu vervollkommnen. Dies ist ein zentraler Bestandteil der japanischen Kultur.
Die Koffer sind gerade erst ausgepackt, doch ich möchte Ihnen gleich die Höhepunkte meiner siebentägigen Reise zwischen Tokio und Kyoto schildern!
Toyosu-Markt
Beim Verlassen des Flugzeugs denke ich unwillkürlich ans Essen, aber nicht unbedingt, weil ich hungrig bin, sondern vielmehr, weil es keine andere Stadt auf der Welt gibt, die mit Tokio vergleichbar ist: Vom kleinen Imbiss-Ausgabefenster bis hin zu Gourmetrestaurants für gehobene Küche soll es in Tokio ungefähr 160.000 Restaurants geben.
Die kulinarischen Traditionen der Stadt reichen bis in die Edo-Zeit zurück. Eine derart große Anzahl von Lokalen macht auch ein ausgeklügeltes Versorgungssystem erforderlich – eines der wichtigsten Elemente ist der Toyosu-Markt in Tokio. Und dort ist auch der ideale Ausgangspunkt!
Dieser Fischmarkt hat 2018 den legendären Tsukiji-Fischmarkt ersetzt und wird gerne als der „Bauch von Tokio“ bezeichnet. Er ist vor allem für seine Thunfisch-Versteigerung bekannt. Hier geht es hektisch und schnell zu und Sie sollten unbedingt am frühen Morgen kommen.
Toyosu ist ein Großhandelsmarkt für Meeresfrüchte, Obst und Gemüse. Wenn Sie früh genug da sind, begegnen Sie höchstwahrscheinlich einigen der besten Sushi-Meister in Tokio, die dort ihren Fisch und ihre Meeresfrüchte einkaufen. Die meisten Sushi-Restaurants in Tokio sind kleine Tresenlokale, die nur 8-10 Personen gleichzeitig bedienen. Um die Qualität und Frische zu gewährleisten, kaufen die Köche nur so viel Fisch ein, wie sie für den Tag benötigen. Darum ist der Einkauf am Toyosu-Markt für viele von ihnen ein tägliches Ritual.
An einer Ladentheke auf dem Toyusu-Markt trifft man wahrscheinlich mehr Köche als irgendwo sonst auf dem Markt. Sie heißt Yamayuki und gehört dem „König des Thunfischs“, Yukitaka Yamaguchi. Yukitaka ist ohne Frage ein sehr angesehener Mann auf dem Toyosu-Markt und einer der faszinierendsten Menschen, die ich je in Tokio treffen durfte. Wenn Sie schon einmal auf dem Tsukiji-Markt waren, haben Sie ihn vielleicht in seiner blauen Uniform gesehen, wie er Thunfisch fein säuberlich aufschneidet, Anrufe tätigt oder Sushi-Meister wie Takashi Saito neben vielen anderen Spitzenköchen aus Tokio bedient.
Laut Herrn Yamaguchi wählt er Thunfisch so aus, dass er gut mit dem Shari (Reis) des jeweiligen Restaurants harmoniert. Kräftiger Shari braucht kräftigen Fisch. Und für Restaurants, in denen der Shari eher weich ist, wählt er weichen Thunfisch mit einem subtileren Geschmack. Er isst in allen Restaurants, mit denen er zusammenarbeitet, um deren Bedürfnisse herauszufinden und empfiehlt ihnen dann den passenden Thunfisch zu ihrem Shari. 85 Prozent der Kunden von Yamayuki sind Sushi-Restaurants und jedes Restaurant hat eine andere Art von Shari. Einige verwenden Akazu (roter Reisessig), andere Komesu (Reisessig), einige verwenden Zucker, andere nicht, einige verwenden viel Essig, andere nicht. Nach Angaben von Herrn Yamaguchi arbeitet er mit etwa 1.000 Restaurants weltweit zusammen.
Tachigui Sushi Tonari
Langsam gewöhnte ich mich an die japanische Lebensweise, und Sushi blieb weiterhin ein wichtiges Thema. Das liegt auch daran, dass in ganz Tokio in den letzten Jahren zwanglosere Sushi-Restaurants, die „Sushi-ya“ heißen, entstanden sind. Dieser Trend wurde durch die Pandemie und das Ausbleiben ausländischer Besucher noch beschleunigt.
Tachigui Sushi Tonari – Tachigui bedeutet „Essen im Stehen“ – ist ein Beispiel für diesen Trend zur schicken Abwandlung der Tradition, und ich musste es unbedingt besuchen. Die traditionelle Art, Sushi zu essen geht auf die Edo-Zeit zurück, die 1603 ihren Anfang nahm und 1867 zu Ende ging.
Sie können bei Tachigui Sushi Tonari zwar auch traditionelle Neta (Sushi-Auflagen) im Edo-mae-Stil wie Thunfisch oder Maifisch bestellen, aber der Küchenchef Hatano Yoshiki sorgt mit eigenen Kreationen wie Auberginen-Agebitashi und roter Bohnenpaste mit Sesamsamen für seine individuelle kreative Note.
Soba Osame
Soba-Nudeln sind ein anderes Grundnahrungsmittel, das seinen Ursprung in der Edo-Zeit hat.
Damals galten sie als billiges und schnelles Essen für Menschen aller Gesellschaftsschichten. Die aus Buchweizen hergestellten Soba-Nudeln werden oft mit einer Dip-Sauce oder in Suppen angerichtet und lassen sich auf verschiedenste Weise verzehren. Aber seien Sie darauf gefasst, dass es in Japan als höflich und anständig gilt, seine Soba-Nudeln zu schlürfen! Man glaubt nämlich, dass das Schlürfen den Geschmack der Nudeln verstärkt und zeigt so, dass man die Mahlzeit zu schätzen weiß.
Das „Soba Osame“ von Soba-Meister Kenji Osame gilt derzeit als eines der besten Soba-Yas in Tokio. Küchenchef Osame ist bekannt dafür, dass er Buchweizen aus verschiedenen Regionen Japans bezieht, weil jede Landschaft dem Buchweizen spezielle Eigenschaften verleiht. Daraus stellt er köstliche, grob gemahlene Juwari Soba her. Bei einer Reise durch Japan werden Sie feststellen, dass es in den verschiedenen Regionen unzählige Sobasorten gibt.
Soba wird natur oder mit verschiedenen Beilagen in einer heißen Brühe oder kalt serviert, wie z.B. Zaru Soba, das im Sommer meist auf einem Bambussieb angerichtet wird. Ich persönlich liebe kalte Soba, weil der feine Geschmack des Buchweizens dann besser zur Geltung kommt. In handwerklichen Betrieben wie Soba Osame ist es üblich, dass die Soba vom Meister persönlich jeden Tag frisch zubereitet und geschnitten werden. Meister Osame beim Schneiden der Soba zuzusehen, ist eine nahezu meditative Erfahrung. Jede Bewegung ist wohlüberlegt und schön anzuschauen.
Pizza im Mandarin Oriental
Bei einem Japanbesuch fällt einem vielleicht nicht als erstes Pizza ein, aber von dieser Pizza hatte ich schon so viel gehört, dass ich sie einfach kosten musste.
Den Chefkoch Daniele Cason im Mandarin Oriental Hotel könnte man auch als eine Art Shokunin bezeichnen: einen Pizza-Shokunin! Der aus Rom stammende Daniele, ein gelernter Koch, kam vor zehn Jahren ins Mandarin Oriental Tokio und hat sich dort entschlossen, Pizzabäcker zu werden. Vielleicht hatte er auch Heimweh nach dem Essen seiner Heimat und begann, Pizza alla pala zu backen, eine traditionelle römische Spezialität, die man in Rom normalerweise stückweise verkauft.
Chefkoch Daniele hebt die Kunst des Pizzabackens auf eine neue Ebene, weil er nur die besten Zutaten einkauft. Während das Mehl und das Wasser aus Italien stammen, bezieht er die übrigen Zutaten wie Gemüse, Prosciutto und Burrata von den besten handwerklichen Erzeugern in Japan. Ähnlich wie bei der traditionellen japanischen Kochkunst Kaiseki spiegeln Danieles Pizzabeläge nicht nur jede Jahreszeit wider, sondern auch jede Mikro-Saison, von denen es in Japan 72 gibt. Im Winter verwendet er zum Beispiel Berggemüse, das nur für eine begrenzte Zeit verfügbar ist. Im Frühling bezieht er wildes Berggemüse (Sansai) von Ueda Teisho, einem 85-jährigen Sammler, der das Gemüse in seinem Wald in der Präfektur Kochi sammelt. Jede Woche bekommt Daniele eine Kiste Sansai und es ist immer wieder eine Überraschung, wenn er neue Arten von Sansai oder Blumen entdeckt. Daniele kauft auch Takeoko-Bambussprossen, Wildblumen und Shiitake-Pilze von Ueda Teisho.
Mein Besuch fiel in die Zucchini-Saison und Danieles Pizzakreation war ein Freudenfest mit sommerlichen Texturen und Farben. Der Teig war knusprig und leicht und hielt die Zutaten schön in der Mitte. Zum krönenden Abschluss setzt Daniele einen delikaten Akzent mit Zucchiniblüten, die noch mehr Farbe und eine feine Süße verleihen. Pizza in Japan? Ich bin ein Fan.
Auberge Tokito
Nur 45 Minuten außerhalb von Tokio befindet sich die „Auberge Tokito“. Beim Betreten werden Sie umgehend in eine Oase der Ruhe versetzt – und zwar eine ziemlich exklusive. Die atemberaubende Architektur und Inneneinrichtung des renommierten japanischen Architekten und Designers Shinichiro Ogata sind eine moderne Weiterentwicklung des traditionellen japanischen Ryokan. Im Einklang mit der Tradition des Ryokan verfügen alle Zimmer über einen Onsen, der den Gästen ein authentisches Japan-Erlebnis bietet.
Der Mann hinter diesem neuen Projekt und dem kulinarischen Erlebnis ist Yoshinori Ishii, ein Ausnahmekoch, der nach mehr als 20 Jahren im Ausland in seine Heimat zurückgekehrt ist, um dort die „Auberge Tokito“ zu eröffnen. In London führte er ein mit einem Michelin-Stern ausgezeichnetes Kaiseki-Restaurant. Dort ist er als Pionier des „Ikejime“ bekannt, einer humanen Methode zum Töten von Fisch, bei der zugleich die Qualität des Fleisches erhalten bleibt.
Ishiis hatte sich vorgenommen, den besten Fisch in London zu servieren. Das brachte ihn nicht nur dazu, die besten Produkte auf dem Markt ausfindig zu machen, sondern auch dazu, die Fischfangmethoden in Großbritannien zu verändern. Er besuchte Fischereibetriebe an der Südwestküste Englands, vor allem entlang der Halbinsel von Cornwall, wo der schonende Umgang mit Fisch eine lange Tradition hat. So fand Ishii einen Lieferanten (den Chef einer kleinen Bootsfischerei), der in der Lage war, seine Methode zu übernehmen und damit seinen Anforderungen gerecht zu werden. So konnte er als Nebenprojekt die gängigen Fischereipraktiken verbessern, indem er den ortsansässigen Fischern die traditionelle japanische Ikejime-Methode beibrachte.
In der „Auberge Tokito“ ist Küchenchef Yoshinori Ishii wieder einmal innovativ, indem er die traditionelle japanische Kaiseki-Küche neu interpretiert und modernisiert. Er zaubert eine Reihe von kleinen, aber kunstvoll zusammengestellten Gerichten, bei denen die jeweilige Jahreszeit im Mittelpunkt steht.
Genau wie in Großbritannien definieren er und sein Team die Vorstellung von Luxus mit einer „handwerklichen Küche“ neu, auch hier arbeitet er eng mit den besten Handwerkern, Produzenten, Fischern und Jägern aus ganz Japan zusammen.
An seinem Tresen mit zehn Plätzen kredenzt Yoshinori Ishii herrlich frisches Sashimi von der Seebrasse an frischen und gefrorenen Hassaku-Zitrusfrüchten und Kräutern; „Surf&Turf“, mit Stroh geflammter Thunfisch mit Fond de Veau und Meerrettichcreme, oder, das absolute Glanzlicht der Mahlzeit, gebackene „Gekkou“-Lilienzwiebeln. Alles wird in Tellern und Schalen angerichtet, die Ishii San selbst in seinem benachbarten Keramikatelier entworfen hat.
Yukito Nishinaka
Wer in die Chiba-Präfektur unweit von Tokio fährt, trifft dort auf den weltbekannten Glaskünstler Yukito Nishinaka. Er hat sich darauf spezialisiert, die im 17. Jahrhundert für Teeschüsseln entwickelte japanische Reparaturtechnik „Yobitsugi” auf seine einzigartige Weise neu zu interpretieren.
Yobitsugi ist eine der Kintsugi-Techniken, der japanischen Kunst, zerbrochene Gegenstände zu reparieren. Beim Kintsugi werden die zerbrochenen Teile eines Gegenstands ausgebessert, beim Yobitsugi hingegen werden Teile verschiedener Gegenstände zusammengefügt. Die fertig reparierten und mit Gold akzentuierten Risse sind wunderschön.
Bei der Yobitsugi-Technik wird Lack sichtbar mit Gold-, Silber- oder Platinpulver vermischt und als traditionelles Bindemittel für die Bruchstücke verwendet. Danach werden die Klebestellen mit Blattgold noch hervorgehoben, was ihnen eine poetische Schönheit verleiht.
Nishinakas Arbeit ist sehr charakteristisch. Er verbindet die Bruchstücke mit geschmolzenem Glas miteinander, wobei er auch Fragmente von anderen Gegenständen einsetzt. Auch hier bleibt die Reparaturstelle absichtlich gut erkennbar: Fragmente eines zerbrochenen Gefäßes verschmelzen mit einem mundgeblasenen Glaskern, danach wird alles in Blattgold und -silber gehüllt.
„Ewige Verbundenheit” im Honen-in-Tempel von Yukito Nishinaka
Meine Reise führt mich weiter nach Kyoto zur Installation „Ewige Verbundenheit“. Diese Installation ist ein einzigartiges Kunstwerk des Glaskünstlers Yukito Nishinaka am Eingang des historischen Honen-in-Tempels in Kyoto. Dieser Tempel steht dort bereits seit über 340 Jahren.
Nishinakas Installation ist eine moderne Deutung des traditionellen japanischen Steingartens, auch als Karesansui bekannt, und seine Arbeit ist ein Symbol für Wiedergeburt und Nachhaltigkeit.
Für die gläsernen Steine in der Installation wurden recycelte Glasflaschen geschmolzen und verformt. Die einzelnen Glassteine wurden sorgfältig bearbeitet, damit sie den Natursteinen ähneln, die man in einem Karesansui-Garten findet. Einen solchen Garten bezeichnet man oft auch als „Zen-Garten“. Das wunderschöne und einzigartige Kunstwerk ist einerseits japanischer Kulturtradition verpflichtet und spiegelt andererseits moderne Nachhaltigkeit wider.
Hyotei
Bei einem Spaziergang durch die alten Straßen Kyotos kann man nur immer wieder darüber staunen, was sich hinter den Türen der uralten, traditionellen Holzhäuser, den Machiyas, verbirgt. Hier bin ich auf das Restaurant Hyotei gestoßen.
Hyotei ist ein traditionelles Kaiseki-Restaurant am Eingang zum Nanzen-ji Temple und ist mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet. Wer die Schwelle des Hyotei überschreitet, unternimmt eine Reise in die Vergangenheit. Das Restaurant ist seit 450 Jahren im Besitz derselben Familie und der jetzige Chefkoch, Yoshihiro Takahashi, führt die kulinarische Tradition bereits in der 15. Generation weiter.
Das Hyotei ist auf die traditionelle Kaiseki-Teeküche spezialisiert, ein mehrgängiges Menü, das sich aus der Teezeremonie entwickelt hat. Ursprünglich war es eine bescheidene Mahlzeit, die nur aus einer Schüssel Miso-Suppe und drei Beilagen bestand. Im Laufe der Jahre hat sich Kaiseki zu einem aufwändigen Fest der Aromen, Farben und Texturen entwickelt, bei dem der Chefkoch seine Fähigkeiten unter Beweis stellt und das Allerbeste der Saison serviert.
Eine typische Kaiseki-Mahlzeit beginnt üblicherweise mit einer Vorspeise, gefolgt von einem der Jahreszeit entsprechenden „Hassun“-Gericht und Sashimi, sowie anderen gekochten und gegrillten Speisen. Je nach Restaurant und Chefkoch kann es insgesamt auch mal mehr als zehn Gerichte geben!
Zu den Höhepunkten und Spezialitäten des Hyotei gehört das weich gekochte Ei. Schon seit Jahrhunderten wird es im Teehaus Hyotei für hungrige Pilger auf dem Weg zum Nanzen-ji-Tempel nach der gleichen Methode zubereitet. Das Ei ist perfekt weichgekocht und schmeckt genauso köstlich wie es aussieht!
London
Japan hat das Glück, dass Shokunin das Herzstück des Landes bilden, und ich hatte sieben Tage lang das Glück, die exquisitesten Speisen und das feinste Kunsthandwerk erleben zu dürfen. Das Glück, diese raren Genüsse erleben zu dürfen, und auch das Glück, sie hier mit Ihnen zu teilen. Bei einem Besuch in Japan wird einem rasch klar, dass sich dort hinter fast jeder Tür eine ganz andere Welt verbirgt, die nur darauf wartet, entdeckt zu werden. Auch wenn man dafür wohl mehrere Lebzeiten bräuchte!